Am Anfang ist die Linie
Silvia Izi: zur Ausstellung im Ernst-Bloch-Zentrum, Ludwigshafen Am Rhein, 2009
Mehrere Linien kombiniert werden zu einem Wort, zu Wörtern: Einige Linien bezeichnen eine Million Dinge (Novalis). Was für ein Reichtum an Wörtern: Stichwörter, Reizwörter Schlagwörter; und was Für ein Verschleiß! In atemberaubender Schnelligkeit verdrängt ein Wort das andere, und sehr viele Worte sagen viel nichts. Nach heroischen Kämpfen bleiben dann schon mal hehre Worte als leere Hülsen zurück. In einer meiner Serien habe ich dem Wort „Ehre“ optisch und akustisch ein „denk-mal“ errichtet.
Wir denken in Sätzen und fühlen in Worten. Man fühlt alles und weiß genau, woran man ist, aber das Licht, das im Herzen brennt, erlischt, wenn es in den Verstand gebracht wird. (Ernst Bloch: Geist der Utopie). Bei Ernst Bloch wirkt das Geschriebene wie gesprochen und berührt unmittelbar. Funken sprühend springen einen die Worte aus den Buchseiten förmlich an; man kann sich an ihnen erwärmen oder sich davon inspirieren lassen. Aus Blochs Multiversum der Worte suche ich mir die Worte aus, die mir etwas bedeuten: Dunkel, Nähe, Noch-Nicht. Sie bewirken etwas in mir, ohne dass ich sagen könnte, was.
Das Wort, das ich ausgewählt habe, besteht aus Buchstaben. Ich zerlege den Buchstaben in seine Linien. Mit Linien lässt sich spielen. Sie sehen immer wieder unterschiedlich aus, je nachdem mit welchem Werkzeug oder auf welchem Untergrund ich arbeite. Die Linien können hell oder dunkel, breit oder schmal, schwebend oder drückend, kräftig oder zart sein. Auch die Bewegung hat einen Einfluss auf das Ergebnis und ist abhängig davon, ob ich die Linie schnell oder langsam, heftig oder bedächtig, steigend oder fallend ausführe. Ich verändere den Buchstaben, definiere ihn neu, strukturiere ihn um, verforme, füge hinzu, lasse weg, bis sich die einzelnen Linien in den Rhythmus der Komposition einfügen. So wie es eine Choreographie des Tanzes gibt, gibt es eine Choreographie des Wortes. Als Choreografin bin ich Erfinderin und Gestalterin meiner aus Linien bestehenden Worte. Der bewegte Pinsel bringt ein unüberschaubares Repertoire an Linien hervor. Sie können eine Kettenreaktion auslösen, die neue Zufälle entstehen lässt, z.B. Kleckse, Flecken, ineinander verlaufende Farben, Risse, aufgebrochene oder unregelmäßig aufgetrocknete Ränder. Unerwartetes tritt ein, und ich staune oder bin beglückt, wenn das Ergebnis stimmig ist. Wie der Tanz sich von der darstellenden Handlung gelöst hat, kann das Wort bei mir zum eigenständigen Gebilde werden.
Der Prozess des Linienziehens ist tastendes Beginnen und Suche nach neuen Verbindungen. Der ineinander gewobene Ablauf von der Linie zur Form ist das Wort selber, mit dem ich in ein sinnliches Wechselspiel von Schreibgrund, Schreibwerkzeug und Schreibflüssigkeit trete. Ernst Bloch hat diesen Prozess so ausgedrückt: Das ist alles ein Linienziehen im Noch-Nicht versucherischer, experimentierender Art dergestalt, dass nicht nur wir experimentieren, sondern die Welt selbst ein Experiment ist……(aus: Experimentum Mundi).